Dieses Zitat von Rumi hat mich schon vor längerer Zeit fasziniert. "Wie soll dein Spiegel blank poliert werden, wenn du von jedem Reiben irritiert bist?" Den Spiegel polieren, das bedeutet für mich so viel wie wachsen oder zu mir finden. Es bedeutet, dass die alten, unnützen Schichten und Krusten an mir abgeputzt werden, dass Lasten abfallen, Mauern abgebaut werden, Türen und Fenster geöffnet werden und Luft und Licht herangelassen wird an das empfindsame und gleichsam starke Wesen, dass sich hinter, unter und zwischen all dem befindet.
Und es bedeutet, je blanker der Spiegel, desto klarer werde ich sehen, desto besser wird das Leben darin reflektiert werden, desto "wahrhaftiger" vielleicht auch wird das sein, was ich wahrnehme.
All das Zeug, dass sich auf dem Spiegel angesammelt hat im Laufe der Jahre ist dort einmal aus einem bestimmten Grund gelandet. Es gab einmal eine Zeit, einen Moment, wo diese oder jede Verhaltensweise, Denkart, Gefühlswahrnehmung nützlich, problemlösend, vielleicht sogar überlebensnotwendig war. Daher muss ich sie nicht verurteilen oder mich gar dafür schämen.
Heute bemerke ich vielleicht, dass mich dasselbe, was mich ehemals geschützt hat, mich heute behindert, mich blockiert, abschottet, entfremdet oder mich sogar krank macht. Was einst eine Lösung war, ist heute das Hindernis, das mir die klare Sicht versperrt, das vielleicht verhindert, dass ich offen, locker, frei, zufrieden, glücklich, gesund, liebend und mitfühlend sein kann.
Vielleicht bin ich mir dessen sogar schon bewusst. Doch wie lästig die Angewohnheit auch sein mag, blöderweise hängen wir oft sehr an ihr, haben uns arrangiert und befürchten nicht selten insgeheim, dass wir ohne sie nicht klar kommen.
Hier beginnt nun das Reiben und Polieren. Und hier taucht dann auch oft die Irritation auf. Die Verwirrung, die Furcht, der Widerstand. Wir fragen uns, was ist hier los, irgendwas stimmt hier nicht, irgendwas fühlt sich anders an, ungewohnt, vielleicht sogar verkehrt. Vielleicht schmerzt es auch oder bringt den Boden unangenehm ins Schwanken, hebt das Leben aus den Fugen. Oft schreit dann etwas in uns nach Hilfe, Sicherheit, Mitgefühl, Anerkennung.
Den Spiegel zu polieren ist ein Prozess. Es geschieht schrittweise. Und es ist auch gar nicht leicht, diesen Vorgang zu auszuhalten. Oft erkennen wir auch nicht richtig, was da eigentlich vor sich geht.
Momente der Stille, der Einsicht, der Meditation können uns dabei helfen, Verbindung zu schaffen zu unseren Gefühlen, zu unserer Wahrnehmung, in Kontakt mit uns zu sein, von Moment zu Moment, sodass wir uns selbst bei diesem Prozess unterstützen können. In Geduld und Vertrauen.
Und gute Beziehungen zu Freunden, Familie, Tieren helfen uns und geben uns das Gefühl uns in Geborgenheit weiter häuten oder heilen zu können, zu entfalten, dass wir in Sicherheit sind und verstanden werden. Menschliche Bindungen, die uns Nähe und Zugehörigkeit vermitteln und gleichzeitig Raum und Freiheit zum Wachsen lassen.
Und mit der Zeit werden wir dann klarer sehen. Wir werden schneller wissen, wo es lang geht, was passiert, was wir brauchen, was wir loslassen können, was uns gut tun und was unheilsam ist, wer uns unterstützt und wer uns behindert, was ein gutes Werkzeug ist und was ein nutzloses. Der Zugang zu unserer Intuition wird besser und damit das Gefühl von Sicherheit und Vertrauen in uns selbst.
Und dann bald beginnt es Spaß zu machen und die Irritation weicht immer schneller und häufiger Momenten der Erkenntnis, der Freude, der Liebe und Hingabe an das, was passiert. Man darf in diesem Prozess, weinen und wütend sein, man darf schimpfen und stampfen, aber man darf vor allem das ganze mit Freundlichkeit, Nachsicht und Humor begleiten. Ein kleines Lächeln oder auch gerne mal ein herzliches Lachen über sich selbst und diese verrückte Welt ist meist konstruktiver als jede Ermahnung, Kritik oder Ärger.
Also freue ich mich über jede Irritation, und nehme sie als Gelegenheit um mir die Dinge genauer anzuschauen - und poliere weiter. So gut es eben geht.
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