Doch was
passiert, wenn wir eine Rolle annehmen, die gerade gar nicht gefragt ist? Wenn
wir zu Hause ankommen und noch im Arbeitsmodus sind, das Kind aber Trost und
liebevolle Zuwendung braucht? Oder wenn wir am Wochenende dringend ausruhen und
entspannen müssen, um wieder Kraft zu tanken, doch unser ruheloser Antreiber
und innerer Kritiker uns zu weiteren Aktivitäten treibt? Oder wenn wir uns gegen
jemanden wehren müssen und uns jedes Mal wie ein Kleinkind fühlen, wenn wir
eigentlich um unser Recht kämpfen wollen?
Dann hat
ein Anteil zu viel Raum eingenommen und verdrängt die anderen, vielleicht hat
er sogar die General-Kontrolle übernommen und ist fasst immer präsent oder er
ploppt völlig unkontrolliert auf und macht dann scheinbar, was er will. Das
kann auch ein grüblerischer oder trauriger Anteil sein, der viel zu viel von
unserer Zeit in Anspruch nimmt oder der, der immer alle und jeden umsorgen und
bekümmern möchte, wodurch wir selbst zu kurz kommen.
Wir sind
wie ein Bus, in dem all die Rollen oder Anteile wie Wesenheiten versammelt sind. Und je
nachdem, wer am Steuer sitzt, bestimmt, wohin die Reise geht.
Wie
können wir es schaffen, zu bemerken, wenn der Fahrer ausgewechselt werden
sollte und es dann auch bewerkstelligen? Wie können wir erkennen, warum der
Fahrer gerade glaubt, dass nur er uns in dieser Situation die beste Hilfe ist
und nicht merkt, dass vielleicht ein anderer das Steuer übernehmen könnte?
Es gibt
einen Ort in uns, an dem wir ganz still und ausgeglichen sind, ganz liebevoll und
freundlich, ganz zuversichtlich und klar. Von diesem Ort aus können wir
beobachten, was gerade vor sich geht. Wir sehen, wohin der Bus fährt, wer am
Steuer sitzt und wer vielleicht gerade um die Fahrerlaubnis kämpft. An diesem
Ort sind wir leer, wir wollen nichts und wir sind vollkommen angstfrei und
zufrieden. Er ist
das Zentrum unseres Systems, unsere innere Mitte.
Von hier
aus können wir unsere inneren Kämpfe wahrnehmen, unsere Emotionen und Gedanken,
unsere inneren Zustände. Und wir sehen auch die Welt da draußen, die anderen
Menschen und Lebewesen, sehen ihre Bedürnisse, Nöte, ihre Emotionen und
Lebensweisen.
Fernab
von diesem inneren und äußeren Treiben, gibt es also diesen Ort, an dem wir „zu
Hause“ sind. Er ist sowas wie das Bewusstsein selbst, unser innerer Zeuge,
unser Gewahrsein. Wir kultivieren seine Präsenz durch die Achtsamkeit.
Durch
die Praxis der Achtsamkeit üben wir, regelmäßig an diesen Ort zu gehen, um tief
durchzuatmen, zu entspannen und uns einen Überblick zu verschaffen. Hier kann
uns nichts geschehen, hier sind wir vollkommen sicher, sind wir ganz und heil,
uns mangelt es an nichts und wir müssen nichts tun um irgendetwas zu verändern.
Hier sind wir freundlich mit uns selbst und beurteilen und kritisieren uns
nicht. Hier dürfen wir ehrlich mit uns selbst sein und alle Merkwürdigkeiten
zulassen. All die Rollen anschauen und ihr Treiben liebevoll beobachten.
Wenn wir
es üben, diesen freundlichen, inneren Raum als einen Teil von uns zu sehen,
bei dem wir Zuflucht nehmen können, sind wir immer und überall sicher.
Wir lernen, liebevoller mit uns selbst und den anderen umzugehen, auch wenn es uns gerade schwer fällt. Und wir lernen, von ungesunden Mustern und gewohnten Strukturen Abstand zu nehmen und sie irgendwann sein zu lassen.
Im
nächsten Schritt, wenn wir dieses achtsame Schauen von unserem inneren, stillen
Ort aus mehr und mehr kultiviert haben, können wir uns später den dominanten Rollen
in unserem Leben zuwenden und schauen, warum sie eigentlich da sind. Sie sind keine
Anteile, die wir bekämpfen oder auslöschen müssen. Sie sind da, weil wir selbst
aus irgendwelchen Erfahrungen gelernt haben, dass wir mit ihrer Hilfe die Welt
besser ertragen oder verstehen können, dass wir das Leben besser bewältigen und
kontrollieren können, dass wir selbst ein besseres Bild abgeben vor den anderen
oder uns selbst.
Es kann
aber eben auch sein, dass diese Erfahrungen längst überholt sind und wir in einem
Muster gefangen sind. Das kann manchmal ungesund sein. Denn wenn eine Rolle so
dominant wird, kann ein anderer Anteil in uns sich nicht verwirklichen. Daher
ist es gut, für Ausgleich zu sorgen. Eine Möglichkeit ist, wir fragen diesen
Anteil, wieder und wieder: Warum bist du so präsent? Wie versuchst du mir zu helfen? Was kann ich
tun, damit du dich nicht so wichtig fühlen musst? - Bis wir zu Einsicht und Verständnis finden.
Für
manchen ist dieser stille Ort durch einen Atemzug erreichbar. Als läge er in
dem Atem selbst. Die Konzentration auf den Atem lässt uns ruhiger werden. Das
System beruhigt sich, Herz, Kreislauf und der Geist schalten einen Gang runter,
wenn wir ein paar tiefe, achtsame Atmezüge tun. Wir können es auch mit einem
Lächeln versuchen. Manchmal ist man so verbissen oder ernst, da kann sich alle
Strenge durch ein Lächeln auflösen und uns an diesen stillen Ort bringen, an
dem alles zwar immernoch da ist, wir aber eine entspanntere Haltung dazu haben. -
Und
jetzt: atmen, lächeln und einfach das Dasein genießen. Denn du bist perfekt, so wie du bist. An diesem Ort, der in uns allen ist und der uns alle miteinander verbindet, bist du perfekt. Mach ihn zu deinem Zuhause und lebe aus ihm heraus.
Sarina
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